02.07.2025
Seit rund zehn Jahren kommt es im Bereich des Mont-Blanc-Massivs wiederholt zu vielen, kleinen Erdbeben. Eine neue Studie belegt erstmals einen Zusammenhang zwischen klimabedingten Veränderungen im vergletscherten Hochgebirge und einer erhöhten lokalen Erdbebengefährdung. Die Erkenntnisse von Forschenden des Schweizerischen Erdbebendienstes (SED) an der ETH Zürich, des Bureau de Recherches Géologiques et Minières (BRGM) in Montpellier und des Instituts des Sciences de la Terre (ISTerre) in Grenoble sind von Bedeutung für die Vorsorge gegen Naturgefahren in hochalpinen und arktischen Regionen weltweit.
Das Mont-Blanc-Massiv im Dreiländereck von Frankreich, Italien und der Schweiz umfasst neben dem Mont Blanc zehn weitere Viertausender – darunter den Gebirgszug der Grandes Jorasses. Unterhalb der Grandes Jorasses wurden bislang nur vereinzelt Erdbeben registriert. Seit Herbst 2015 ist dort jedoch eine deutlich ausgeprägte und anhaltende Erdbebensequenz aktiv. Auffällig dabei ist, dass die Erdbeben einem klaren saisonalen Muster folgen und besonders häufig im Herbst auftreten.
Die Studie führt die erhöhte Erdbebenaktivität auf den zunehmenden Einfluss des Klimawandels im Hochgebirge zurück. Hitzewellen in diesen Regionen lassen den Permafrost auftauen und beschleunigen die Gletscherschmelze. Infolgedessen nehmen Felsstürze zu. Dadurch verändern sich die Wege, durch die das Schmelzwasser versickert – was den Porenwasserdruck bis in tiefe Gesteinsformationen beeinflusst und die Spannungsverhältnisse im Untergrund verändert. Ausdruck dieser Prozesse ist eine verstärkte Erdbebenaktivität in Regionen, in denen bisher keine Erdbeben beobachtet wurden.
Unter dem Mont-Blanc-Massiv und der Grandes Jorasses verläuft eine bis zu 600 Meter breite, wasserdurchlässige Schwächezone im Gestein. Sie erleichtert das Versickern von Schmelzwasser. Die Studie zeigt, dass entlang dieser tektonisch geschwächten Zone junges, kaltes Schmelzwasser von den rund 2’500 Meter höher gelegenen Gletschern nach etwa 70 Tagen in den Mont-Blanc-Tunnel eindringt. Die Erdbeben konzentrieren sich entlang der Schwächezone in Tiefen bis zu acht Kilometern unter dem Tunnelniveau. Modellierungen der Forschenden zeigen, dass das eindringende Schmelzwasser dort mit einer Verzögerung von mehreren Monaten bis Jahren den Porenwasserdruck erhöht und die seismische Aktivität verstärken kann. Der Porenwasserdruck schwächt die stabilisierende Gebirgsspannung, die senkrecht auf die Gesteinsflächen wirkt. Dadurch können sich Scherspannungen, die parallel zu diesen Flächen wirken, leichter abbauen, was sich in Form von Erdbeben äussert.
Das Forschungsteam hat mithilfe moderner Verfahren über 12’000 Mikroerdbeben aufgespürt und untersucht, die zwischen 2006 und 2022 unterhalb der Grandes Jorasses aufgetreten sind. Die Auswertungen zeigen, dass die Erdbebengefährdung seit 2015 zehnmal höher ist als zuvor. Noch drastischer ist der Anstieg der kurzzeitigen Erdbebengefährdung in den kalten Monaten von Herbst bis Frühjahr um das bis zu 10’000-Fache. Diese beschreibt die Wahrscheinlichkeit, mit der ein Erdbeben einer bestimmten Stärke innerhalb eines kurzen Zeitraums auftritt. Die Studie untersuchte dabei, wie hoch die Wahrscheinlichkeit für ein Erdbeben der Magnitude 3 oder grösser innerhalb der nächsten 24-Stunden ist. Während der kalten Jahreszeit – also in Phasen mit einer erhöhten Erdbebenaktivität – kann diese Wahrscheinlichkeit bei mehr als zehn Prozent liegen. Das bedeutet, dass im langfristigen Durchschnitt alle zehn Tage mit einem Beben dieser Stärke zu rechnen wäre. In einer solchen Hochphase ereignete sich im März 2019 auch das bisher stärkste Erdbeben der Sequenz mit einer Magnitude von 3.1, was die Ergebnisse der Studie untermauert.
Die Studie kann jedoch nur die relative Veränderung der Erdbebengefährdung zuverlässig darstellen. Um verlässliche absolute Werte angeben zu können, wären weiterführende Untersuchungen erforderlich.
Seit 2015 stiegen die Temperaturen über dem Gefrierpunkt deutlich an. Gleichzeitig nahm die Erdbebenaktivität signifikant zu – und damit auch die lokale Erdbebengefährdung, insbesondere in den Monaten von Herbst bis Frühjahr.
Saisonale Schwankungen der Erdbebenaktivität infolge von Veränderungen des Porenwasserdrucks wurden bereits in anderen Regionen der Welt beobachtet. Diese Studie belegt jedoch erstmals, dass dieses vom Klimawandel begünstigte Phänomen zu einer deutlich höheren lokalen Erdbebengefährdung führen kann.
Das ist eine wesentliche Erkenntnis für eine bessere Erdbebenvorsorge in alpinen Regionen, die in Zukunft möglicherweise verstärkt mit Erdbeben infolge klimatischer Veränderungen konfrontiert sein könnten. Das betrifft nicht nur das Mont-Blanc-Massiv, sondern auch andere hochalpine oder arktische Gebiete weltweit.
Simon, V., Kraft, T., Maréchal, J.-C., Helmstetter, A., & Diehl, T. (2025). Climate-change-induced seismicity: The recent onset of seasonal microseismicity at the Grandes Jorasses, Mont Blanc Massif, France/Italy. Earth and Planetary Science Letters, 666, 119372. https://doi.org/10.1016/j.epsl.2025.119372
https://www.science.org/content/article/global-warming-triggering-earthquakes-alps