08.02.2023
Die Erdbeben in der Türkei vom 6. Februar 2023 mit den Magnituden 7.8 und 7.5 sind verheerende Ereignisse, die das Leben von Millionen von Menschen in der Türkei und in Syrien massiv beeinträchtigen. Der Erdbebenherd des Gaziantep-Erdbebens (Magnitude 7.8) befand sich 18 Kilometer unter der Erdoberfläche und rund 9 Kilometer östlich von Sakçagözü. Der Erdbebenherd des zweiten Erdbebens (Kahramanmaraş-Erdbeben, Magnitude 7.5) befand sich in einer Tiefe von 10 Kilometern und ungefähr 100 Kilometer nördlich des ersten schweren Bebens auf einer zweiten Verwerfung. Die Millionenstadt Gaziantep in der Türkei liegt in unmittelbarer Nähe des Epizentrums des Gaziantep-Erdbebens und Aleppo in Syrien ist nur 100 km entfernt. Weitere zehn Grossstädte liegen direkt an der Verwerfungszone.
Weiterlesen...Die Erdbeben ereigneten sich aufgrund der Bewegung der tektonischen Platten. Die Region, in der die Erdbeben stattfinden, wird als "Triple Junction" bezeichnet, in deren Untergrund drei verschiedene Platten aufeinandertreffen: die Anatolische, die Arabische und die Afrikanische. Das Gaziantep-Erdbeben ereignete sich nach bisherigem Stand aufgrund der Bewegung des südlichen Teils der Ostanatolischen Verwerfungszone (siehe Abbildung 1). Diese Verwerfungszone verläuft im Südosten der Türkei und ist für viele der in der Region auftretenden Erdbeben verantwortlich. Über die Zeit bauten sich im Untergrund gewaltige Spannungen in der Verwerfungszone auf, die sich ruckartig freisetzten und damit die Bodenbewegungen auslösten, die zu verheerenden Schäden in der Region führten. Die Auswirkungen waren aber nicht nur lokal feststellbar, sogar in Zypern, 400 Kilometer vom Epizentrum des Gaziantep-Erdbebens entfernt, wurde noch eine dynamische Verschiebung von etwa 20 cm mit GPS gemessen (GPS: Globales Positionsbestimmungssystem).
Nach vorläufigen Berechnungen des United States Geological Survey (USGS) hat sich beim Gaziantep-Erdbeben ein grosser Abschnitt der Verwerfung auf einer vertikalen Fläche von ca. 220 x 30 km, was ungefähr der Fläche des Kantons Graubünden entspricht, rund 3.4 m weit verschoben. Das zweite Erdbeben mit einer Magnitude 7.5 hatte eine Bruchfläche von 40 x 20 km Fläche (vergleichbar mit der Grösse des Kantons Jura) und rutschte ca. 10 m. Mit weiteren Daten, die in den kommenden Tagen zur Verfügung stehen werden, werden diese Angaben zur Grösse und Bewegung der Bruchflächen weiter spezifiziert und können sich daher erwartungsgemäss noch massgeblich verändern.
Die Erdbeben brachten zahlreiche Gebäude zum Einsturz. In der Stadt Kahramanmaras sind beispielsweise geschätzte 16’000 Gebäude beschädigt worden (Report 6.2.23, Kandilli Observatory and Earthquake Research Institute). Dies ist nicht nur auf die Stärke der Erschütterungen zurückzuführen, sondern auch auf eine unzureichende Bauweise. Obwohl die Türkei nach dem Erdbeben in İzmit 1999 ihre Baunormen überarbeitet hat, gibt es nach wie vor viele ältere Gebäude, die zuvor erstellt worden sind und somit eine unbekannte und oft ungenügende Erdbebensicherheit aufweisen. Die Ausgangslage ist in vielen Ländern ähnlich und trifft auch auf die Schweiz zu, da die Erneuerung der Bausubstanz in der Regel langsam vorangeht und die Ertüchtigung bestehender Gebäude sehr aufwendig sein kann. In türkischen Grossstädten wird zudem das Erdgeschoss oft als offene Ladenfläche mit wenigen Stützwänden gebaut. Solche wären aber für die Stabilität extrem wichtig. Ohne diese Stützwände kann das Erdgeschoss bei starker Bodenbewegung kollabieren und somit das gesamte Gebäude zum Einstürzen bringen.
Die Erdbeben verursachten zusätzlich weit verbreitete Stromausfälle und Kommunikationsstörungen, was es für Rettungs- und Aufräumteams schwierig machte, die betroffenen Gebiete zu erreichen und die Hilfsmassnahmen zu koordinieren. Gemäss Angaben des USGS ist zudem zu erwarten, dass aufgrund der Erschütterungen grosse Gebiete von Erdrutschen und Bodenverflüssigungen betroffen sind. Aufgrund von Bodenverflüssigungen verliert der Untergrund seine Festigkeit, was wie bei Erdrutschen zu zusätzlichen Schäden an Gebäuden, Strassen oder Infrastrukturen führt.
Die Region war in der Vergangenheit von mehreren starken Erdbeben betroffen. Das letzte vergleichbar starke Beben in der Region ereignete sich 1939 bei Erzincan auf der Nordanatolischen Verwerfung und hatte eine Magnitude von 7.8. Es war eines der schwersten Beben in der Türkei im 20. Jahrhundert und verursachte schwere Schäden in einigen Städten und Dörfern. Unmittelbar vor den zwei aktuellen Erdbeben in der Südtürkei lag die jährliche Wahrscheinlichkeit für ein Erdbeben mit einer Magnitude grösser als 7.7 in dieser Region bei 0.13% und für ein Erdbeben mit einer Magnitude grösser als 7.4 bei 0.25% (Danciu et al., 2021). Diese Wahrscheinlichkeit ist im europäischen Vergleich eher hoch, wie aus Abbildung 2 zu erkennen ist: die betroffene Region liegt im violett eingefärbten Bereich. Das Auftreten starker Erdbeben wie derjenigen des 6. Februar ist daher nicht unerwartet. Regionen mit tieferer Gefährdungsstufe sind in Abbildung 2 gelb eingefärbt.
Nach einem grossen Erdbeben treten typischerweise weitere Erdbeben auf. Es ist dabei nicht auszuschliessen, dass weitere Beben von ähnlicher oder sogar grösserer Magnitude auftreten. Die meisten Nachbeben geschehen innerhalb weniger Minuten oder Stunden nach dem grössten Beben. Weitere Nachbeben können über Wochen bis Monate oder sogar Jahre eintreten, ihre Anzahl nimmt aber mit der Zeit tendenziell ab. Dieses Muster ist auch bei der aktuellen Sequenz klar zu erkennen, wie die grauen Balken in Abbildung 3 zeigen. Die erwartete Anzahl Erdbeben pro Tag liegt nach einer Woche bereits ca. 95%-97% tiefer als noch am ersten Tag. Dennoch kann es in seltenen Fällen erneut zu grossen Beben kommen.
06.02.2023
(aktualisiert) Am Montag, den 6. Februar 2023 um 02:17 Uhr Schweizer Zeit hat sich in der Nähe der Stadt Gaziantep in der südlichen Zentraltürkei, rund 50 km nördlich der syrischen Grenze, ein Erdbeben der Magnitude 7.8 ereignet. Dem Hauptbeben folgten bisher dutzende Nachbeben, die ebenfalls die Schadensschwelle erreichten. Darunter ein Beben der Magnitude 6.7, das sich 11 Minuten später ca. 30 km nördlich des Hauptbebens ereignete sowie ein Beben der Magnitude 7.5, welches am selben Tag um 11:47 Uhr auftrat. Nach ersten Erkenntnissen fand dieses starke Nachbeben auf der nach Westen abzweigenden Surgu-Verwerfung statt. Es vergrösserte den Schadensperimeter der Erdbebensequenz deutlich nach Nordwesten. Die Nachbeben-Tätigkeit wird – typischerweise mit abnehmender Intensität – voraussichtlich noch Wochen oder Monate anhalten, wobei auch mit weiteren Beben über der Schadensschwelle gerechnet werden muss. Es ist zudem nicht auszuschliessen, dass sich ein noch stärkeres Beben als das Hauptbeben ereignet, die Wahrscheinlichkeit dafür ist jedoch sehr klein.
Weiterlesen...Die schweren Beben waren von Israel bis Kroatien spürbar und haben in einer Region von etwa 400 auf 300 km zu schweren Schäden geführt. Bis Dienstagmittag waren bereits über 5’000 Todesopfer und 25‘000 Verletzte bekannt, davon etwa zwei Drittel in der Türkei und ein Drittel in Syrien. Diese Zahlen werden voraussichtlich noch weiter ansteigen.
Das Magnitude 7.8 Erdbeben hat in einer seismisch aktiven Region stattgefunden, in der sich die Anatolische, Arabische und Afrikanische Platte treffen. Nach bisherigen Erkenntnissen lag das Beben auf der vom Golf von Iskenderun in Richtung Nordosten verlaufenden Ostanatolischen Störung. Ein Beben dieser Grösse versetzt die Erdplatten entlang einer Verwerfung von 180 bis 200 km Länge um mehrere Meter. Der gesamte Bruchvorgang dauerte 30 bis 40 Sekunden, was eine Bruch-Fortpflanzungsgeschwindigkeit weit über Schallgeschwindigkeit ergibt. Die Bruchfläche reichte dabei von einer Tiefe von rund 20 km bis an die Erdoberfläche. Das Beben von letzter Nacht ist eines der stärksten bekannten Beben in der Region. Die bisher grössten historischen Beben mit Magnituden von ungefähr 7 haben in den Jahren 1138 und 1822 die Stadt Aleppo in Syrien komplett verwüstet. Das Beben von 1822 forderte einige zehntausend Todesopfer. Seit 1970 blieb es in der Region verhältnismässig ruhig mit nur drei Beben mit Magnituden von 6 oder mehr. Das grösste davon erschütterte die Region am 24. Januar 2020 mit einer Magnitude von 6.7.
Die ersten Wellen (P-Wellen) der Beben in der Südosttürkei trafen mit einer Verzögerung von gut 5 Minuten in der Schweiz ein, die stärkeren, aber langsameren Oberflächenwellen legten die 2’700 km in etwa einer Viertelstunde zurück. Beim Hauptbeben von Montagnacht wurde die Erdoberfläche in der Schweiz um bis zu einem Zentimeter vertikal ausgelenkt – vergleichbar mit den Bodenbewegungen, die hierzulande nach dem Magnitude 9.2 Beben von Tohoku (Japan) im Jahr 2011 registriert wurden. Allerdings treffen in so grossem Abstand vom Erdbebenherd nur noch langperiodische Wellen ein: Das heisst, die Bodenoberfläche bewegt sich innerhalb von etwa zwei Minuten erst einen Zentimeter nach oben und dann wieder nach unten. Das ist mit geeigneten Seismometern deutlich messbar und kann zur Lokalisierung des Erdbebens wie auch zur Magnitudenbestimmung verwendet werden. Für uns Menschen sind diese Wellen aber weder spürbar noch haben sie irgendwelche Schadensfolgen.